„Spiritualität ist eine Lebenshaltung, die über das eigene Ich hinaus auf eine transzendente Wirklichkeit verweist. Sie wird aus Erfahrung gespeist und zeigt sich im Affekt, im Denken und im Handeln. Spirituelle Erfahrung ist eine Erfahrung einer solchen transzendenten Wirklichkeit“.
Walach, H. (2012). Spiritualität und Wissenschaft. In: Hüther, H., Roth, W., von Brück, M. (Hrsg.): Damit das Denken Sinn bekommt. Freiburg: Herder.
Spiritualität bezeichnet also eine Erfahrungsebene jenseits vom Denken – hier steht die unmittelbare Erfahrung des Transzendenten, Wesenhaften, alles-Verbindenden im Mittelpunkt; eine Erfahrung, die über Selbstkonzepte und ICH-Mechanismen hinausreicht und daher als trans-personal bezeichnet werden kann. Eine spirituelle Erfahrung entzieht sich prinzipiell der Verbalisierbarkeit.
Spiritualität steht nicht im Gegensatz zur Wissenschaft, es geht nicht um einen Gegensatz von Glauben und Wissen, von Irrationalem und Rationalem, von Geistigem und Materiellem, von Wunschdenken und Wirklichkeit. Vielmehr beschreibt der Begriff „Spiritualität“ eine grundlegende Dimension des Daseins.
Mit der Aufklärung etablierte sich ein Realitätsbegriff, der – anders als das Wirklichkeitsverständnis Meister Eckharts – eine Trennung von Gegenständlichem und Geistigem suggerierte. Ersteres zu erforschen war Aufgabe der (Natur-)Wissenschaft, mit letzterem befasste sich die Religion.
Durch die Erkenntnisse der Quantenphysik und der Hirnforschung, der Formulierung der Systemtheorie und dem Einfluss fernöstlichen Denkens wurde der Realitätsbegriff der Aufklärung in Frage gestellt. Das Phänomen des Bewusstseins rückt ins Zentrum des Interesses und wird wissenschaftlich untersucht. Es etabliert sich der Begriff „Spiritualität“, welcher für die Ebene des Nicht-Begrifflichen Erfahrbaren steht. Die unmittelbare Erfahrung des Nicht-Begrifflichen ist höchst individuell. Offensichtlich werden aber ähnliche Begriffe gewählt, um diese individuelle Erfahrung zu beschreiben: Transzendenz, etwas Wesenhaftes, ein Alles-Verbindendendes, das Große-Ganze, ein über-das-Ich-hinaus-Gehendes, etwas Göttliches u.ä.
Dies spiegelt sich auch in einer Umfrage unter Psychologen, die auf Palliativstationen arbeiten (Gramm, Hofmann und Berthold 2012): Nach einer Definition für die Begriffe „Spiritualität“ und „Religiosität“ befragt, wurde Spiritualität mit Worten wie „Erfahrung, Transzendenz, mystisch, Bewusstsein, höheres und allumfassendes Wesen, Kraft, Energie, Sinnfrage und Glaube“ beschrieben, während Religiosität vor allem mit Worten wie „Glaube, Ritual, Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft, Gott, Moral und Gebote“ in Verbindung gebracht wurde.
Gramm, J., Berthold, D. & Hofmann, L. (2012). Reden über Gott und die Welt. Spiritualität und Religiosität in der palliativpsychologischen Behandlung. Poster, präsentiert auf dem 9. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin, Berlin
